2.

Der kaum vom Winde bewegte Rauch stieg sonnenbeschienen auf und gab ein Bild von Glück und Frieden. Und das alles war sein! Aber wie lange noch? Er sann ängstlich nach …

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

 

 

Rainer Wiederschein ging über die Frohnauer Brücke und genoss es, von vielen erkannt und mit Respekt begrüßt zu werden. Hier war er wer. Von daher war es richtig gewesen, die alte Villa am Graben der S-Bahn zu kaufen und den Umbau zu wagen. Gute Restaurants gab es viele im Berliner Norden, aber keines, das so war wie sein ›à la world-carte‹. Der Grundgedanke war frappierend einfach: Biete den Leuten unter einem Dach all das, was sie auf ihren Reisen rund um die Welt genossen haben. Seine Speisekarte war nach Art einer Weltkarte gestaltet und man konnte das bestellen, was für ausgewählte Metropolen, Küsten und Landschaften typisch war. Sein Lebenslauf war so exotisch, dass man ihm ohne Weiteres abnahm, dabei authentisch zu sein. In jeder Tageszeitung hatte es Porträts von ihm gegeben.

Wiederschein war am 14. April 1963 im Berliner Bezirk Schöneberg auf die Welt gekommen und hatte die ganze Jugend und Kindheit darunter gelitten, dass alles um ihn herum so furchtbar langweilig war: die Wartburgstraße, seine Eltern, seine Verwandten, seine Mitschüler. Alle waren zwar nett, aber eben furchtbar nett, das heißt, ungemein bürgerlich und bieder, spießig und langweilig. So hatte er sich zu seinem 16. Geburtstag an die Tür seines Zimmers ein selbst gemaltes Plakat angeheftet: ›Langeweile kann tödlich sein‹. Seine Eltern, ehrbare Beamte in der Bezirksverwaltung, hatten das als Affront empfunden und sich fürchterlich darüber aufgeregt, weil sie meinten, er würde damit ihr Leben entwerten. Der Streit mit ihnen war im darauffolgenden halben Jahr derart eskaliert, dass er beschlossen hatte, das Gymnasium zu verlassen und auf das Abitur zu pfeifen. Stattdessen hatte er eine Lehre als Koch begonnen, aber auch die nicht zu Ende gebracht, denn jeden Tag von frühmorgens bis spätabends Gemüse zu putzen und am Herd zu stehen, war auch alles andere als spannend. Die Insel West-Berlin hatte ihn angewidert, und so hatte er seinen Rucksack gepackt, um rund um den Erdball zu trampen und das große Abenteuer zu suchen, sprich: das berühmte Glück am anderen Ufer, obwohl er sich sehr wohl darüber im Klaren war, dass es allein der Weg war, der zählte, nicht das Ziel. Mit dem Erreichen des Zieles begann immer schon das Unglück, das heißt, die Langeweile.

Das Aufzählen all seiner Stationen langweilte ihn, und er nannte, fragte man ihn, nur Indien, Nepal, die Fidschi-Inseln, Brasilien und Kentucky. Mal hatte er als Koch, mal als Kellner sein Geld verdient, manchmal auch Touristen geführt oder ganz einfach Geld geschnorrt, hin und wieder auch einer reichen Lady als jugendlicher Lover gedient. Damen dieser Art gingen nicht zur Polizei, wenn ihnen nach einer Nacht mit ihm ein paar 100 Dollar fehlten.

Er galt als liebenswerter Filou, wusste aber auch, dass ihn ein Schulfreund, der Psychologie studiert hatte, als einen Soziopathen bezeichnete, also als einen Menschen, der über einen oberflächlichen Charme und eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügte, selbstzentriert und launisch war, weder Reue noch Schamgefühl aufzubringen vermochte und es nicht schaffte, tiefere Bindungen einzugehen und seinem Leben auf Dauer irgendeine Ordnung zu geben.

Wie auch immer, Wiederschein war 1994, im Alter von 31 Jahren also, nach Berlin zurückgekehrt, um an der Beerdigung seiner Eltern teilzunehmen. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Beim Leichenschmaus war er Angela Grabowski begegnet, einer jüngeren Bekannten seiner Mutter, von allen Äinschie genannt.

Äinschie war geschieden und hatte einen ziemlich schlechten Ruf, was ihm natürlich gefiel. Sie wohnte oben in Frohnau, und sie verabredeten sich für den nächsten Tag zu einem kleinen Spaziergang. Wiederschein war bis dahin noch nie in Frohnau gewesen, es fiel bei ihm in die Kategorie langweilig hoch drei. Als er aber mit Äinschie im Arm vor der halb verfallenen Villa an der S-Bahn stand, erging es ihm wie zu Zeiten Moses’ oder Paulus’, und er hörte eine Stimme, die ihm sagte, was er zu tun hatte: Hier erfülle dir deinen Traum, eröffne ein Restaurant und biete den Leuten all die Speisen an, die du auf deiner Reise um die Welt gekocht und gekostet hast.

So war die Idee zum Restaurant ›à la world-carte‹ entstanden. Das Startkapital hatte ihm Siegfried Schulz, ein Cousin seines Vaters, zu einem vergleichsweise geringen Zinssatz geliehen.

Als Wiederschein in seiner Straße angekommen war, ließ ihn das Aufheulen einer Kreissäge zusammenfahren. Auf einem der Nachbargrundstücke wurde gebaut, und die Arbeiter waren gerade dabei, die Bretter für die Verschalung des Kellergeschosses zurechtzusägen. Die Bodenplatte war schon gegossen, nun ging es langsam in die Höhe. Der Bauherr stieg gerade aus seinem BMW, um den Leuten auf die Finger zu sehen. Ein bisschen sah er aus wie der Chef der Deutschen Bank, war aber nur Volkswirtschaftsprofessor, wenn auch einer, der auf dem Sprung war, mit dem Titel ›Wirtschaftsweiser‹ geadelt zu werden. Noch war der Name Bernhard Schönblick nicht in aller Munde, aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis die Fernsehteams anrückten und er das in die Mikrofone sprach, was ihm seine Hintermänner zugeflüstert hatten. Wiederschein hielt den Mann, so wörtlich, für ›ein gekauftes Arschloch, das auch nicht mehr weiß als ein Student im ersten Semester‹, begegnete aber Schönblick mit ausgesuchter Höflichkeit, denn wenn der mit seiner Familie und seinen vielen Freunden auch nur zweimal im Monat ins ›à la world-carte‹ kam, dann trieb das den Umsatz steil in die Höhe. Man kam schnell ins Gespräch.

»Sie haben da einen wunderschönen Birnbaum in Ihrem Garten«, sagte Schönblick.

Wiederschein schmunzelte. »Tut mir leid, Herr Professor, aber der Birn- ist in Wahrheit ein Kirschbaum.«

»Schade«, sagte Schönblick. »Sonst hätten Sie Ihr Restaurant ›Unterm Birnbaum‹ nennen können und damit alle Berliner Fontane-Fans angelockt.«

Wiederschein sah da keinerlei Zusammenhang. »Wieso denn das?«

»Na haben Sie denn nie Fontanes Kriminalroman gelesen: ›Unterm Birnbaum‹?«

»Nee«, bekannte Wiederschein. »Ich kenne nur die Birnen des Herrn von Ribbeck zu Ribbeck im Havelland.«

 »Ach, diese Bildungslücken!«, stöhnte Schönblick. »Da fällt mir wieder ein, dass ich um eins Prüfungsausschuss habe.«

»Hoffentlich verwechselt da keiner Äpfel mit Birnen«, sagte Wiederschein. »Oder Birnen mit Kirschen.«

Schönblick verabschiedete sich, um seinem Polier noch ein paar inquisitorische Fragen zu stellen, hätte aber auch sonst den Dialog nicht fortsetzen können, weil in diesem Augenblick Pfarrer Eckel dicht vor Wiederschein bremste und bei diesem gewagten Manöver fast vom Rad gefallen wäre.

Wiederschein lachte. »Sie hätten bei Don Camillo Rad fahren lernen sollen: Der konnte das besser, trotz seiner Soutane.«

Pfarrer Eckel hatte inzwischen seine Balance wiedergefunden und sah sich suchend um. »Ist meine Frau bei Ihnen?«

»Ihre Frau isst leider selten bei mir«, antwortete Wiederschein.

Pfarrer Eckel verzog das Gesicht. »So viel verdient ein Kirchenmann nun leider nicht.«

»Trotzdem betet meine Frau Sie an.«

»Sie soll nicht mich anbeten, sondern … Wo steckt sie eigentlich?«

Wiederschein zuckte mit den Schultern. »Äinschie? Keine Ahnung. Wahrscheinlich wieder auf dem Friedhof. Aber wenn’s ihr hilft …«

Pfarrer Eckel schwieg einen Augenblick und kam ihm dann mit Hiob: »Siehe, selig ist der Mensch, den Gott straft; darum verweigere dich der Züchtigung des Allmächtigen nicht. Denn er verletzt und verbindet; er zerschlägt, und seine Hand heilt.«

Wiederschein wusste nichts damit anzufangen. Er hielt Eckel für einen geilen Bock, der sich nur so intensiv um Angela kümmerte, um sie ins Bett zu bekommen. Aber wenigstens war er kein Langweiler und machte außerdem viel Reklame für das ›à la world-carte‹, auch wenn er sich selbst nur selten im Gästeraum niederließ.

Pfarrer Eckel schwang sich wieder aufs Rad und entschwand in Richtung Fischgrundbrücke, während Wiederschein sein Gartentor öffnete und sich von hinten der Küche näherte, um zu sehen, ob seine Leute auch wirklich fleißig bei der Arbeit waren. Weit kam er nicht, denn seine Nachbarin zur Linken, die pensionierte Lehrerin Carola Laubach, stand am Zaun und tat das, was ihr bei Wiederschein den Spitznamen ›Mrs. McKeif‹ eingebracht hatte.

»Sie haben ja Ihre Birke noch immer nicht gestutzt!«, keifte sie los. »Die Zweige ragen so weit auf mein Grundstück hinüber, dass sie meinen Pflanzen alles Licht nehmen.«

Vor drei Jahren war Carola Laubach pensioniert worden. Die Amtsärztin hatte ihr ein ausgewachsenes Burn-out-Syndrom attestiert, aber auch einen nicht ausgeheilten Bandscheibenvorfall, eine beachtliche Migräne, ein beginnendes Asthma, eine ausgeprägte Arthrose in den Kniegelenken und noch einiges andere. Was nicht in ihrem Gutachten stand, war die Tatsache, dass Carola Laubach unter einer pathologischen Verbitterungsstörung zu leiden hatte, denn nie hatte sie dem Herrn, dem Schicksal, ihrem Leben oder wem auch immer verziehen, dass sie es nur bis zur Grundschullehrerin gebracht hatte und nicht zur Professorin für Germanistik oder auch für deutsche Literatur. Schon früh hatten ihre Schülerinnen und Schüler bei privaten Dialogen von ihr nur als der ›alten Hexe‹ gesprochen, und in der Tat nahm ihr Gesicht auch mehr und mehr die Züge einer Hexe an, wie man sie in gewissen Märchenbüchern findet. Progressive Eltern verboten ihren lieben Kleinen zwar, von Frau Laubach als der ›Hexe Laulau‹ zu sprechen, doch das hatte nur eine verstärkende Wirkung. Als ihr Mann mit 49 Jahren gestorben war, hatten ihn viele posthum zu diesem Schritt beglückwünscht, denn dadurch habe er sich nur verbessern können. Vielleicht hätte sie sich selbst therapieren können, wenn sie in die Politik gegangen wäre, denn dort konnten Charaktere wie sie sogar Senatoren werden, aber die Parteien waren ihr allesamt zuwider. Sie als Nachbarin zu haben, konnte jedem den Spaß am Grundstück verleiden.

›Wenn ich meinen ersten Mord begehe, dann trifft es mit Sicherheit Carola Laubach‹, war eine von Wiederscheins stehenden Wendungen, doch in Wahrheit ärgerte er sich über die verbitterte Lehrerin nur wenig, denn sie war nicht langweilig, und alles durfte bei ihm ein Mensch sein, nur nicht langweilig. Die Dialoge mit ihr machten ihm Spaß, und er suchte sie so zu gestalten, dass sie eine Chance gehabt hätten, für ein gutes Drehbuch zu taugen.

»Tut mir leid, Frau Laubach«, erwiderte er nach ein paar Sekunden des Nachdenkens. »Aber die Birke ist bei mir ein heiliger Baum, weil sie mich immer an Jane Birkin erinnert.« Und damit begann er, ›Je t’aime‹ zu summen.

»Das ist ja krankhaft bei Ihnen!«

»Gott, was soll ich machen, doch Sie wissen ja: Unter jedem Dach wohnt ein Ach, unter jedem Laub aber auch.«

»Ich werde zur Polizei gehen!«, schrie sie daraufhin.

Wiederschein grinste. »Ja, tun Sie das, Frau Laubach, Arbeit soll ja therapeutisch sehr sinnvoll sein, aber Sie haben bestimmt keine Chance, bei der Polizei genommen zu werden, und beim Ordnungsamt auch nicht. Bei Ihrem Alter und Ihren vielen Krankheiten …«

Carola Laubach verschwand in ihrem Haus und warf die Eingangstür krachend hinter sich ins Schloss.

Wiederschein erinnerte sich an das, was ihm verfeindete Klassenkameraden immer hinterhergerufen hatten: ›Wiederschein, Wiederschwein!‹ Wieder Schwein zu sein, machte ihm Spaß. Penetrant gute Menschen waren ihm zuwider, das Morbide und das Böse fand er wesentlich anziehender, und er war sich durchaus bewusst, dass er eines Tages auch einen Mord begehen konnte, es steckte halt so in ihm drin. Und wenn dem so war, dann gehörte es zu seiner Selbstverwirklichung. Das war ja inzwischen das höchste Ziel eines modernen westlichen Menschen, obwohl das Beispiel Adolf Hitler gezeigt hatte, was das für katastrophale Folgen haben konnte.

Von der Straße her hörte er laute Stimmen, es wurde gelacht und gelästert. Das konnten nur die drei Tennisspieler sein, die vom Match oben am Poloplatz kamen und ein bisschen essen und trinken wollten, ehe sie in ihre Büros zurückkehrten. Und richtig, es waren Robert Orth, Inhaber einer mittelständischen Firma, die mit ihrem Autozubehör gut im Geschäft war, Arne Quaas, Professor für Steuerrecht an der FHW, und Thomas Mietzel, Rechtsanwalt mit großer Kanzlei in Tegel. Zu ihnen hatte sich noch Werner Woytasch gesellt, Exstadtrat und bekannter SPD-Politiker.

Man begrüßte sich mit großem Hallo. Wiederschein wusste, wie wichtig solche Multiplikatoren waren, und suchte ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie als Persönlichkeiten wie als Freunde ungemein zu schätzen, zu mögen und zu lieben. So etwas gehörte zum Geschäft, und alle durchschauten diese Show, ließen sich aber gerne täuschen. Vielleicht steckte ja doch mehr dahinter …

Wiederschein eilte ins Haus, um Denise zuzurufen, sie möge sich beeilen, denn die Herren seien am Verdursten. »Das Übliche!« Dann setzte er sich zu ihnen, um ihnen zuzuhören. Sie brauchten stets ihr Publikum.

Orth freute sich, dass in London der größte Deal der letzten Jahre zustande gekommen war: die Fusion der Chrysler Corporation mit der Daimler Benz AG.

»Das treibt ja auch deine Aktien in die Höhe«, sagte Quaas. »Ich hoffe, du hast selbst keine gekauft, denn bei Insidergeschäften verstehen die Staatsanwälte keinen Spaß.«

»Seit wann gibt es bei Einmannbetrieben auch Aktien?«, fragte Woytasch.

»Na, hör mal!«, protestierte Orth. »Ich habe schließlich 21 Arbeiter und Angestellte.«

»Mehr Mitglieder wird die SPD in ein paar Jahren auch nicht mehr haben«, fügte Mietzel hinzu.

Quaas rätselte, wie viele seiner Studentinnen morgen in der Vorlesung fehlen würden, weil in Freiburg im Breisgau unter dem Motto ›Lesben und Lesben lassen‹ das Lesben-Frühlingstreffen stattfand.

Woytasch verzog das Gesicht. »Hör auf damit: Meine Frau ist gerade mit ihrer besten Freundin für ein paar Wellnesstage nach Bad Saarow gefahren, und ich warte jeden Augenblick auf einen Anruf, dass sie sich von mir trennen und zu Sarah ziehen will …«

In diesem Moment klingelte das Telefon, und der Jubel war groß. Quaas rief, er solle freudig zustimmen und dann mit ihm zusammen alt werden.

»Es war nur Müntefering«, sagte Woytasch. »Ob ich nicht Minister werden wolle.«

»Ja, für die Ministergärten an der Wilhelmstraße«, spottete Orth. »Wo du so gerne Rasen mähst.«

Mietzel erzählte vom dritten Europäischen Jugendchor-Festival in Basel.

»Da muss ein alter Päderast wie du ja hin«, lästerte Woytasch.

»Mensch, mein Sohn singt da mit.«

»So ’n schönes Alibi hat nicht jeder«, fügte Wiederschein hinzu.

Woytasch selbst ließ sich lang und breit darüber aus, wie einmalig in der deutschen Fußballgeschichte das Jahr 1998 doch sei.

»Wird der 1. FC Kaiserslautern deutscher Meister – als Aufsteiger!«

»Und wann sehen wir dich als Bundeskanzler?«, fragte Quaas.

Alles lachte schallend. Wiederschein liebte fröhlich-spöttische Runden wie diese. Seine Stimmung schlug aber schnell wieder um, denn vorn am Zaun stand Axel Siebenhaar, der Polizeibeamte vor Ort, und klingelte Sturm.

Siebenhaar war der Meinung, dass das ›à la world-carte‹ mit seinem Multikulti-Image nicht in diese Gegend passte, und gab sich alle Mühe, Wiederschein aus Frohnau zu vergraulen. Man konnte schon sagen, dass er Rainer Wiederschein hasste, weil der ihm zu sehr nach Penner und Anarchisten roch. Dass der Wirt des ›à la world-carte‹ einmal in diesen alternativen Welten gelebt hatte, wusste er aus der Zeitung, und er behauptete, so etwas würde nie aus einem Menschen herausgehen und er könne es noch immer riechen. Kurzum, er hielt Wiederschein für einen Kriminellen, irgendwie vernetzt mit der italienischen oder russischen Mafia, und sein Restaurant für einen Ort, schmutziges Geld zu waschen. »Wiederschein«, war seine stehende Wendung. »Den kenn ich, der muss ans Messer.«

Wiederschein hatte davon gehört, fürchtete Axel Siebenhaar aber nicht eigentlich, dazu hatte der Mann einen zu niedrigen IQ, er war nur einfach lästig. Und wieder nervte er ihn mit einer Bagatelle.

»Ihre Hausnummer ist nicht beleuchtet.«

»Meine Lichtreklame ist doch hell genug«, wandte Wiederschein ein.

»Aber die wird um 24 Uhr ausgeschaltet, und dann ist Ihre Hausnummer nicht mehr zu erkennen. Zum Beispiel für die Feuerwehr.«

Wiederschein lachte. »Wenn’s brennt, ist es eh hell genug.«

»Das wird Sie einiges an Ordnungsgeld kosten«, sagte Siebenhaar.

Wiederschein winkte ab. »Macht nichts. Seit ich keine Polizisten mehr besteche, habe ich genug Kleingeld in der Portokasse.«

»… der muss ans Messer«, murmelte Siebenhaar.

 

*

 

Angela Wiederschein hatte zehn Minuten vor dem Schultor gestanden und auf Kevin gewartet. Endlich schrillte die Klingel, und kurz danach kamen die ersten seiner Klassenkameraden auch schon angewetzt. Als ihr Sohn sie sah, kam er auf sie zugesprungen, und sie musste ihn auffangen und einmal um ihre Achse wirbeln. Dabei juchzte er wie auf der Achterbahn. Dann nahm sie ihm den schweren Ranzen ab und warf ihn sich selbst über die Schulter.

»Na, wie war’s?«

»Ich kriege auch eine Eins in Mathe, Mama!«

»Wahnsinn! Du bist ja besser als ich.« Sie hätte ihn am liebsten auf offener Straße abgeküsst, wusste aber, dass er das peinlich finden würde. »Was wünschst du dir denn?«

»Dass wir nach München fliegen und ich Bayern spielen sehen kann.«

»Die spielen doch auch hier in Berlin …«

»Bitte, Mama!«

»Schön, aber nicht, wenn sie gegen Hertha spielen, ich kann Hertha nicht verlieren sehen.«

Kevin sprang jubelnd vor ihr her, und sie war so glücklich wie lange nicht mehr.

Dies alles war allerdings nicht wirklich geschehen, die kleine Szene hatte es lediglich als diffusen Film in ihrem Kopf gegeben. Seit einer halben Stunde saß sie schon an Kevins Grab und wartete auf Bilder wie diese. Hier kamen sie immer, zu Hause nie.

Ach, wenn Kevin noch lebte … Ein Tumor im Kopf, nicht zu besiegen. Wäre Kevin nicht gestorben, hätte sie sich nicht von Michael getrennt, wäre sie nie Frau Wiederschein geworden. Wenn und hätte … Sie war von Hause aus Filmkauffrau, wie sich der Abschluss im Studiengang in Babelsberg  jetzt nannte, hatte aber auch Schauspielunterricht genommen und auf einigen Bühnen gestanden und etliche Filme gedreht. Man hatte ihr eine große Karriere vorausgesagt, doch nach Kevins Tod und der Trennung von ihrem ersten Mann war sie schwer erkrankt. Depressionen, bipolare Persönlichkeitsstörungen … Die Seelenklempner hatten immer neue Krankheitsbilder entdeckt. Als sie dann Wiederschein begegnet war, hatte sich ihr Zustand deutlich gebessert, und sie war sozusagen die Geschäftsführerin im ›à la world-carte‹, das heißt, sie erledigte die Buchführung und war für den Einkauf, die Personalangelegenheiten und das Marketing zuständig. Dennoch, wenn sie einen Film über sich gedreht hätte, wäre ›Das Leben ist eine Sackgasse‹ der Titel gewesen, der alles auf den Punkt brachte. Wiederschein war eine Sackgasse, und das ›à la world-carte‹ war eine Sackgasse. Sie standen kurz vor der Pleite, denn so gut sich die Idee auch anhörte, den Leuten die Speisen anzubieten, die sie im Urlaub so gern gegessen hatten, so schlecht ließ sie sich umsetzen, denn im Zweifelsfall ging man lieber dorthin, wo man Authentisches erwarten konnte, aß also sein Tandoori Chicken beim Inder und sein Masapam beim Thai und nicht bei ihnen in Frohnau.

Ja, sie liebte Wiederschein noch immer, weil sie ihm vertraute, doch eines Tages einen Weg aus ihrer Sackgasse zu finden. Irgendetwas fiel ihm sicher ein, was ihrem Leben wieder einen Sinn gab, etwas Außergewöhnliches. Vielleicht ließen sie in Frohnau alles stehen und liegen und zogen durch die Welt wie Bonnie und Clyde, beraubten Lebensmittelgeschäfte, Tankstellen und kleinere Banken und erschossen ein Dutzend Polizeibeamte, angefangen mit Axel Siebenhaar. Langweilig war das sicher nicht, und Wiederschein hätte keinen Grund gehabt, sich zu beklagen. Und wenn dann ihr BMW von den Kugeln eines SEKs durchsiebt wurde, wie der Ford Deluxe von Bonnie und Clyde am Black Lake in Louisiana, dann war das allemal ein schönerer Tod als der durch einen Gehirntumor. Die Welt hatte so viel zu bieten, man musste nur zugreifen.

Es war später Nachmittag, als sie den Parkfriedhof Neukölln verließ. Sie überlegte, ob sie nach Steglitz oder zum Kudamm fahren und ins Kino gehen sollte. Ja und nein. Zuerst einmal wollte sie ihre alte Heimat besuchen, das heißt, durch die Straße gehen, in der sie aufgewachsen war, den Thuyring in Tempelhof. Wiederschein kam da bestimmt nicht mit, denn der Thuyring war für ihn langweilig hoch drei. Sie ging zum Buckower Damm, wo sie ihren kleinen Wagen geparkt hatte.

 

*

 

Das Team des Restaurants ›à la world-carte‹ war klein, aber alles andere als langweilig. An seiner Spitze war Mohamadou Kumba zu finden, der Koch. Zumeist stand Rainer Wiederschein selbst am Herd und gab dem anderen vor, was zu tun war, doch Mohamadou konnte durchaus selbstständig arbeiten, und manches exotische Gericht war seine eigene Kreation. Er sprach fließend Französisch und hatte das Kochen in Marseille gelernt, betonte aber, dass er Deutschland liebe, weil Kamerun einmal deutsche Kolonie gewesen sei. Er kam aus dem Dualadorf Akwastadt, das am Flusse Wuri lag, und hatte einen Ururgroßvater, der dem Gouverneur Jesko von Puttkamer als Leibgardist gedient hatte. Mohamadou behauptete, von daher seine ganz besondere innere Beziehung zu Deutschland geerbt zu haben, in Wahrheit aber war er hierher  gekommen, weil ihn kein französischer Fußballverein unter Vertrag genommen hatte. Was er besser konnte: Fußball spielen oder kochen, war bei seinen Freunden heiß umstritten, jedenfalls hatte man ihn bei Tasmania Gropiusstadt längst ausgemustert, während er bei Wiederschein nach wie vor hoch im Kurs stand. Wiederschein schickte ihn mehrmals am Abend nach vorn ins Restaurant, wo er mit den Leuten plaudern sollte, um unter Beweis zu stellen, wie international und multikulturell das ›à la world-carte‹ angelegt war.

Was die Bedienung anging, hatte Wiederschein von Anfang an großen Wert darauf gelegt, nur nicht für ein x-beliebiges deutsches Lokal gehalten zu werden, und Matti und Bharati angeheuert.

Matti Kemijärvi war festangestellter Kellner im ›à la world-carte‹, kam aus dem Süden Finnlands und sprach außer fließend Schwedisch auch hinreichend gut Norwegisch und Dänisch, konnte also die skandinavischen Gäste abdecken. Außerdem sollte er in Wiederscheins Planung alle jene Frohnauer anlocken, die sich zur geistigen Elite Deutschlands zählten und, hörten sie seinen Vornamen, sofort von positiven Assoziationen heimgesucht wurden: ah, Bertolt Brecht – ›Herr Puntila und sein Knecht Matti‹. Und zudem war es immer sehr amüsant, wenn er sportlichen Menschen erklärte, wo sie in Frohnau, Hermsdorf oder Glienicke (Nordbahn) eine Minigolfanlage – pienoisgolfkenttää – oder einen Fahrradverleih – polkupyörävuokraamoa – finden konnten. Wer diese Vokabeln mit ihm fünf Minuten lang geübt hatte, bestellte noch ein Bier oder ein Glas Wein und erhöhte damit den Umsatz.

Bharati gab vor, aus dem indischen Bundesstaat Andhra Pradesh zu stammen und an der FU Berlin Germanistik zu studieren, hieß aber in Wahrheit Denise Siegmann, kam aus dem Zwergenweg in Frohnau und hatte in Halle und Neu-Delhi Indologie studiert, musste aber kellnern, da nirgendwo ein angemessener Arbeitsplatz zu finden war.

Die beiden guten Geister hinter den Kulissen, Gudrun und Freddie, waren allerdings beide eingeborene Berliner.

Gudrun Gerber war eine etwas groß geratene Liliputanerin von 51 Jahren, die von sich sagte, sie sei Legasthenikerin, was allerdings etwas übertrieben war, denn schrieb sie auf einen Zettel ›de Moorrieben sind gebutst‹, dann wusste durchaus ein jeder, was gemeint war. Auch das Sprechen fiel ihr schwer, denn sie war Asthmatikerin, was sie aber nicht daran hinderte, mindestens zweimal die Stunde vor die Tür zu treten und zu rauchen. Wie viele mit einem nicht allzu hohen IQ war sie eine Seele von Mensch und wurde von allen gemocht. Ihre drei Kinder hatten alle etwas Ordentliches gelernt, obwohl ihr Erzeuger, ein schlimmer Alkoholiker, erst sehr spät gestorben war. Sie half in der Küche und wirkte, war dort alles erledigt, als Reinemachefrau.

Freddie war das Faktotum in Villa und Restaurant. Er konnte alles, zumindest behauptete er, alles zu können, was das Kochen, Servieren und Reparieren betraf. Dass er der perfekte Hausmeister, Gärtner, Chauffeur und Bote war, verstand sich von selbst. Er rauchte unaufhörlich und war so dick, dass er im Flugzeug immer zwei nebeneinanderliegende Sitze buchte. Eigentlich hätte er mit seinen 53 Jahren schon zweimal tot sein müssen, schaffte es aber immer noch, ansehnliche Frauen zu beglücken, wobei Wiederschein allerdings lästerte, er würde den Akt nur mit einer Art Verlängerungsrohr vollziehen können. Auch konnten die Mediziner unter den Gästen nicht recht nachvollziehen, wie er das Gestöhne beim Orgasmus ohne letale Atemnot hinter sich brachte. Ihrer Meinung nach hätte er schon längst erstickt sein müssen. Er kam aus der Hobrechtstraße und war zur Rütlischule gegangen, was viele Frohnauer ebenfalls machten, um einmal einen geborenen Neuköllner leibhaftig vor sich zu haben, denn ohne Bodyguard, und wer hatte schon einen, wagten sie sich schon lange nicht mehr in dieses Stadtgebiet.

Gudrun und Freddie wohnten in der umgebauten Waschküche, einem halb in der Erde versenkten Anbau an der Rückseite der Villa. Zwei separate Zimmer gab es dort, die kleine Küche und das Bad mussten sie sich teilen. Ein Paar waren sie nicht, obwohl er ab und an, wenn sich keine andere finden ließ, schon einmal mit ihr ins Bett ging.

Wiederschein strich gern durch die Villa, um sich mit Eifer zu notieren, wo aufgeräumt und wo etwas repariert werden musste. Sich selbst sozusagen gegen den Strich zu bürsten, war eine wahre Lust für ihn, galt er doch bei alten Freunden als furchtbar schlampig und als geborener Chaot.

»Freddie?«, schrie er aus dem Keller nach oben. »Du solltest doch die Falltür erneuern.«

»Morgen. Die müssen mir im Baumarkt erst die passenden Scharniere besorgen.«

Diese Falltür war ein großes Geheimnis des Hauses. Die Vorbesitzer hatten, als es mit dem Nazireich zu Ende ging, die Hausplatte durchstoßen und unter dem Keller einen Schutzraum anlegen lassen, um sich und ihre Wertsachen vor den anrückenden Russen in Sicherheit zu bringen. Wiederschein nutzte dieses Gewölbe als Weinkeller, hatte aber auch einen kleinen Tresor hinunterschaffen lassen.

»Freddie, und vergiss nicht, um eins Woytasch die drei Menüs nach Hause zu bringen, der erwartet Gäste, und seine Frau will nicht kochen.«

»Aye, aye, Sir!«

In der Küche lief alles bestens. Zwischen 12 und 15 Uhr gab es wochentags nicht allzu viele Gäste, da schaffte es Mohamadou allein, wenn ihm Gudrun ein wenig zur Hand ging. Bharati war noch nicht angetreten, aber Matti hatte keine Mühe, alle Gäste zufriedenzustellen.

Gudrun kam Wiederschein mit einem Berg schmutziger Wäsche entgegen und meldete, dass im Gästehaus alles hergerichtet sei.

»Kommt denn heute einer?«

»Na, der aus Kalkutta«, antwortete Gudrun.

Wiederschein stutzte. »Einer aus Indien …?« Sollte Denise jemanden nach Frohnau gelockt haben?

»Ich weiß von nichts.«

Es stellte sich heraus, dass Gudrun statt Kalytta, das war ein alter Schulfreund von ihm, Kalkutta gelesen hatte. Da fiel Wiederschein auch ein, dass sich Gerhard Kalytta, der jetzt in Mainz zu Hause war, zu einem Kurzbesuch angesagt hatte.

Für Freunde wie ihn, aber auch für Verwandte, vor allem aber für Manager und für Gäste, die zu viel getrunken hatten, um nachts noch legal mit dem Auto nach Hause fahren zu können, hatte Wiederschein den alten Pferdestall und die darüberliegende Kutscherwohnung zu einem Gästehaus ausbauen lassen.

Dorthin führte er nun den alten Kumpel, als man sich nach dessen Ankunft herzlich umarmt hatte. Gerade begann nebenan auf dem Baugrundstück ein Betonmischer zu röhren.

»Der wird ja nachts verstummt sein«, hoffte Kalytta.

Wiederschein lachte. »Ja, aber dafür hörst du alle zehn Minuten die S-Bahn.«

»Und ich dachte, das hier bei euch sei die reinste Idylle.«

»Du als Psychologe solltest doch wissen, dass die Idylle immer Vorbote einer Katastrophe ist«, sagte Wiederschein.

 

*

 

Karsten Klütz hatte gar nicht anders gekonnt, als Fußballprofi zu werden, denn er war am 30. Juli 1966 genau in der Minute zur Welt gekommen, in der die bundesdeutsche Nationalmannschaft Opfer des ›Wembley-Tores‹ geworden war und gegen England das Endspiel um die Weltmeisterschaft verloren hatte.

»Das ist ein Zeichen des Himmels!«, hatte sein Vater ausgerufen. »Du bist geboren worden, um diese Schmach einmal zu rächen.«

Folgerichtig hatte er mit seinem Sohn schon zu trainieren begonnen, als der noch mit einem Windelpo durchs Kinderzimmer tapste. Seine Karriere hatte Klütz dann in der E-Jugend des 1. FC Neukölln gestartet und es – nach einer abgeschlossenen Lehre als Gärtner – in der Tat bis in die 1. Bundesliga geschafft, wenn auch nur bei Mannschaften der unteren Tabellenhälfte. Nie aber hatte ein Bundestrainer daran gedacht, ihn in die Nationalmannschaft zu berufen, obwohl da öfter Sportkameraden mitmachen durften, die auch nicht besser waren als er. Das nagte an ihm, da halfen auch die Millionen nicht, die er auf dem Konto hatte, und am Abend seiner Karriere war eine Verbitterung geblieben, die ihn ungemein aggressiv werden ließ.

Jetzt kickte er bei Berlin United, einem Verein der Verbandsliga, denn spielen musste er noch immer, auch mit seinen 32 Jahren und einer langen Verletzungsliste, denn es war wie eine Sucht. Jagte er dem Ball hinterher, vergaß er außerdem seine private Katastrophe, die Trennung von Rebecca und den Kindern, den ganzen fürchterlichen Rosenkrieg und den Scheiß mit der Scheidung.

Heute spielten sie auf einem Acker in Mahlsdorf. Er war erst zehn Minuten vor dem Anpfiff in der Umkleidekabine erschienen, weil er Mahlsdorf mit Mahlow verwechselt hatte. Der Trainer hatte geflucht. Auch ein ehemaliger West-Berliner hätte kein Recht, sich derart dusselig anzustellen.

Das Spiel seines Vereins war voll und ganz auf ihn zugeschnitten, das heißt, er sollte der Abwehr Halt geben, im Mittelfeld für Kreativität sorgen und im Angriff Tore schießen. So die Theorie. In der Praxis aber hatte er enorme Schwierigkeiten damit, in derselben Sekunde von der Seitenlinie einen Ball über 30 Meter hinweg in den Strafraum des Gegners zu schlagen und ihn von dort höchstpersönlich ins Tor zu köpfen. Seine Flanke landete also dort, wo niemand stand.

»Das ist doch Schwachsinn, was du machst!«, schrie der Trainer.

»Ich kann doch nicht überall sein!«, brüllte Klütz zurück.

»Doch!«

In den nächsten Minuten versuchte Klütz, immer da zu sein, wo der Ball nicht hinkommen konnte. Er wollte seine Ruhe haben. Und als seine Mannschaft einen Elfmeter zugesprochen bekam, weigerte er sich, ihn zu schießen. Ihr linker Außenverteidiger trat schließlich an – und jagte den Ball einen Meter über die Querlatte. Es blieb dabei, dass sie 0:1 hinten lagen.

»Meinst du, Real Madrid kauft dich jetzt noch?«, fragte ihn sein direkter Gegenspieler, ein gestylter Jüngling mit Brilli im Ohr.

Klütz riss sich zusammen und ignorierte diesen und auch die nächsten fünf seiner Sprüche. Seine Gedanken schweiften ab. Er musste raus aus seiner kleinen Wohnung in Friedenau. Am besten er kaufte sich ein Grundstück am Rande der Stadt oder draußen im Umland und zog mit Sandra in ein neu gebautes Haus. Noch einmal völlig von vorn anfangen. Und dann Spielervermittler werden. Mit den Insiderkenntnissen, die er in all den Jahren angesammelt hatte, stach er die anderen aus. Damit blieb er seinem Fußball treu, ohne dass er sich mit drittklassigen Trainern und geistig minderbemittelten Gegenspielern herumärgern musste.

Beim nächsten Angriff beschloss Klütz, es allein zu versuchen. Er eroberte sich den Ball im eigenen Strafraum, lief über das ganze Spielfeld und spielte alle aus, auch den gegnerischen Torwart – um den Ball dann zielsicher am leeren Tor vorbeizuschieben.

»Et is nur ’n Tor, wenn de zwischen die beeden Pfosten triffst«, erklärte ihm sein Gegenspieler. »Haste noch nie Fußball jespielt?«

Daraufhin versetzte ihm Klütz einen solch heftigen Stoß gegen die Brust, dass er mit dem Hinterkopf gegen den Torpfosten krachte und zu Boden ging. Die Folge war eine Rote Karte und eine Sperre für drei Spiele. Das Sportgericht sollte später von ›mangelnder Impulskontrolle‹ sprechen und ihn als Wiederholungstäter bezeichnen. Insider wussten zu berichten, dass er als Jugendlicher mehrfach wegen gefährlicher Körperverletzung bestraft worden war.

Als Klütz geduscht hatte und sich an den Spielfeldrand stellte, um seinen zehn verbliebenen Kameraden zuzusehen, wie sie gerade das 0:5 kassierten, sah er Sandra ins Stadion kommen. Wenn das kein Trostpreis war.

 

*

 

Rainer Wiederschein saß mit Gerhard Kalytta im Restaurant und frühstückte mit ihm.

»Wie lebt es sich so als Psychologe?«

Der alte Schulkamerad lachte. »Sage ich zu einem Patienten: ›Gratuliere! Ich habe Sie von Ihrem Wahn geheilt.‹ – Der Expatient kläglich: ›Was gibt’s da zu gratulieren? Gestern war ich Napoleon, heute bin ich nur ein Nobody.‹«

»Was sagt uns das?«, wollte Wiederschein wissen.

»Dass immer mehr Patienten zu mir kommen, die deswegen verbittert sind, weil sie es nicht zu einiger Berühmtheit gebracht haben. Früher wollten alle Menschen in den Himmel, heute wollen sie ins Fernsehen. Und wer nicht ins Fernsehen oder wenigstens in die Zeitung kommt, der kommt zu mir.«

»Und du lebst nicht schlecht davon …«

Kalytta lachte. »Ja, und ich verhandele gerade mit einem privaten Sender, ob ich nicht so eine Art Show mit Leuten bekomme, die in die Therapie müssten.«

»Unsere ganze Gesellschaft müsste in die Therapie«, sagte Wiederschein.

»Du doch nicht«, stellte Kalytta fest. »Du hast ein wunderschönes Restaurant, du hast eine wunderschöne Frau – fürwahr, ich muss dich glücklich preisen.«

»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, Psychologe zu werden?«, fragte Wiederschein.

Kalytta zog seine Pfeife aus dem Etui. »Ein echter Freudianer ist eben auf Mundkrebs aus …«

»Wie das?«

»Na, weil unser Meister und Guru 16 Jahre lang an Mundkrebs gelitten hat und schließlich auch daran gestorben ist«, erklärte ihm Kalytta. »Wie ich auf die Idee gekommen bin, Psychologe zu werden? Ganz einfach: Weil Gaby Psychologie studiert hat. Gaby, das war die in unserer Klasse, bei der du nie landen konntest, die Dunkelhaarige rechts am Fenster.«

»Das nennt man also Berufung«, sagte Wiederschein.

Kalytta kam ihm mit dem Paulus-Brief an die Römer: »O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!«

»Wie haben dir denn meine Gerichte geschmeckt?«, fragte Wiederschein.

»Ganz ausgezeichnet und allemal ein Grund, öfter mal nach Berlin zu kommen. Bei euch ist ja wirklich immer was los.« Das spielte auf eine ganz besondere Aktion der Berliner Behinderten an. Weil das Rathaus Lichtenberg für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich war, hatten sie ein Mitglied ihrer Basisgruppe am europäischen Protesttag mit einem Kran vor das Fenster des Büros gehievt, in das er anders nicht gelangen konnte.

»Und Bill Clinton nicht zu vergessen«, fügte Wiederschein hinzu.

Der US-Präsident hatte am 14. Mai zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl und 10.000 Berlinern das 50-jährige Jubiläum der Luftbrücke gefeiert.

»Ich werde daran denken, wenn ich nachher durch den mittleren Luftkorridor nach Frankfurt fliege.«

 

Nachdem Kalytta abgereist war, setzte sich Wiederschein in sein Arbeitszimmer und studierte in den Tageszeitungen wie im Internet die Börsenberichte. Im Augenblick hatte er sich auf Warentermingeschäfte mit Orangensaftkonzentrat und Getreide geworfen, sich aber auch ins sogenannte Optionsscheingeschäft verrannt, das heißt, sein Geld darauf gesetzt, dass bestimmte Aktien und Aktienindizes wie zum Beispiel der DAX steigen oder fallen würden.

»Na, was ist heute dabei herausgesprungen?«

Seine Frau war ins Zimmer gekommen, ohne dass er es bemerkt hatte.

Wiederschein seufzte. »Leider wieder nichts.«

»Sucht ist eben Sucht«, sagte Angela Wiederschein.

»Ich bin kein Zocker, ich bin nur darauf aus, zu Geld zu kommen, ehe Schulz den Strick zuzieht. Um den Hals gelegt hat er mir das Ding schon.«

»Wieso?«

»Er will in nächster Zeit mal vorbeikommen und nach dem Rechten sehen.« Wiederschein fuhr seinen Computer herunter. »Ich weiß nicht ein noch aus und habe Sorgen über Sorgen, und das wittert er irgendwie.«

»Du trinkst zu viel, du spekulierst zu viel, deine Gäste kriegen das mit, und irgendwann wird es ihm zu Ohren gekommen sein.«

Er stand auf und nahm sie in den Arm. »Ach, Äinschie, ich wollte, du hättest bessere Tage. Aber ich habe ja alles unternommen, damit du so richtig berühmt wirst …« Er hatte zweimal versucht, Filme zu finanzieren, in denen ihr die Hauptrolle versprochen worden war, doch beide Male war die Sache im Sande verlaufen und hatte ihn viel Geld gekostet.

Sie machte sich los von ihm. »Du hörst nicht auf zu klagen wegen der Filme, die nie gedreht wurden, und wirfst mir vor, ich hätte nichts im Sinn, als berühmt zu werden. Ja, warum denn nicht? Irgendetwas muss der Mensch doch wollen! Etwas, was nicht jeder hat. Das wusstest du doch. Ich bin dir nicht nachgelaufen, im Gegenteil, du wolltest mich partout. Das kannst du nicht bestreiten. Und nun dieses ewige Gejammere mit dem Berühmtwerden, was soll das? Sicher habe ich dich einiges gekostet, aber ohne mich wärst du doch damals verreckt.«

Er sah sie mit großen Augen an. »Was soll ich denn machen, Äinschie?«

»Mal etwas Außergewöhnliches!«

 

*

 

Sandra Schulz war gelernte Schneiderin, hatte als Model und Komparsin gearbeitet und sich schließlich den Traum erfüllt, Modedesignerin mit eigener kleiner Werkstatt zu werden und ihr Label auf den großen Messen vorzustellen. Das Geld dafür hatte ihr Siegfried Schulz geliehen. Nicht nur das, er hatte es auch geschafft, sie aus der Drogenszene herauszuholen.

Jetzt waren sie schon seit vier Jahren verheiratet, und sie ertrug ihn, weil sie trotz ihrer gerade einmal 26 Jahre ein altmodisches Wertesystem verinnerlicht hatte und für sie Dankbarkeit ein hoher Wert war. Und vielleicht hätte sie es mit ›Siggi‹ sogar bis zur silbernen Hochzeit geschafft, wenn ihr nicht Karsten Klütz über den Weg gelaufen wäre. Sie hatte schon, kaum war sie zehn Jahre alt geworden, für Fußballspieler geschwärmt, und als sie Karsten Klütz auf dem Presseball begegnet war, hatte es für sie nur eines gegeben: den oder keinen. Dagegen anzukommen, war genauso sinnlos wie der Versuch, einen Orkan aufhalten zu wollen. Aber sie wusste, dass Schulz unfähig war, sie loszulassen. Er betrachtete sie wie ein wertvolles Gemälde, das er bei einer Auktion erworben hatte, und einen Van Gogh verschenkte man nicht. Sie kannte ihren Mann nur zu genau.

Siegfried Schulz handelte mit Schrott und Gebrauchtwagen und hatte einiges Geld in Bars und Bordelle investiert. Obwohl er inzwischen schon 49 Jahre alt geworden war, hatte er sich immer noch nicht zwischen den Rollen seriöser Geschäftsmann, Playboy und Mafiapate entscheiden können. Er war ein ausgesprochener Sadist, nicht im sexuellen Sinne, sondern im sozialen, das heißt, er genoss es, andere Menschen zu demütigen und zu unterdrücken, und wenn man ihn mit der Bezeichnung ›Kotzbrocken‹ belegte und einen ›fürchterlichen Zyniker‹ nannte, dann freute ihn nichts mehr als dies. Nicht einmal seine Hündin liebte ihn, und dennoch war er von schönen Frauen und amüsanten Freunden umgeben, denn er hatte Geld, lud pausenlos zu den wildesten Partys ein und vergab zinslose Kredite, mit denen er andere von sich abhängig machte.

Sie wohnten in einer stattlichen Villa in Wannsee. Die Straße trug den Namen ›Am Sandwerder‹ und hatte es verstanden, sich vor dem Plebs gut zu verstecken, obwohl viele in der Stadt sie kannten, denn an ihrem südlichen Ende lag das LCB, das Literarische Colloquium Berlin.

»Hier willst du weg?«, fragte Sandras Freundin Ramona. »Und mit diesem Fußballer zusammenziehen?«

»Der ist sauber, der ist ehrlich. Und beide haben wir als Straßenkinder angefangen, das verbindet. Im Jugendknast ist er auch gewesen.« Sandra rang die Hände. »Ich kann’s ja auch nicht verstehen, aber es ist so, wie es ist. Ich bin darauf programmiert, was soll ich machen?«

»Weiß Schulz schon von Karsten?« Ramona fand den Vornamen Siegfried so entsetzlich, dass sie ihn nicht über die Lippen brachte.

Sandra zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Bis jetzt haben wir es sehr geschickt angestellt, und wenn ich auf Reisen war, ist er immer in dieselbe Stadt gekommen. Aber Siegfried hat ja überall seine Leute sitzen …«

»Ich habe Angst um dich«, sagte Ramona. »Er wird dich eher umbringen, als dass er dich gehen lässt.«

Sandra winkte ab. »Wenn er mich lieben würde, ja, aber so …«

»Das ist doch viel schlimmer bei ihm: Für ihn ist das Fahnenflucht, was du begehst, Hochverrat, und in diesem Falle wird man auf der Stelle standrechtlich erschossen.«

Sandra lachte. »In deinen Drehbüchern, aber nicht im wirklichen Leben.«

»Ein bisschen was verstehe ich davon, von Psychologie und Psychiatrie, und Schulz ist der geborene Affekttäter, glaub es mir.«

Die Worte der besten Freundin blieben nicht ohne Wirkung auf Sandra, und ein wenig kleinlaut fragte sie, was sie tun solle. »Weglaufen und mich vor Siegfried verstecken?«

»Ja.«

»Ich denk mal drüber nach«, versprach ihr Sandra.

»Bitte bevor es zu spät ist!«

Ramona musste zu einer Drehbuchbesprechung und verabschiedete sich mit ein paar belanglosen Worten.

 

*

 

Karsten Klütz hatte Sandra in den letzten drei Wochen wenig gesehen, denn sie war voll damit beschäftigt, Kostüme für den dritten Karneval der Kulturen zu nähen. Am Freitag vor Pfingsten sollte es losgehen. Ihm selber wären vorbeimarschierende Militärkapellen lieber gewesen, aber wenn ihm Sandra gesagt hätte, er solle sich am Christopher Street Day als Schwuler verkleiden und in Lederkleidung auf einem der Wagen mitfahren, hätte er auch das getan. Seine Freunde lästerten: Wo die Liebe hinfällt … Ja, es hatte ihn mächtig erwischt. Immer wieder sang er mit Jürgen Marcus: ›Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.‹

Sie hatten sich auf dem Boxhagener Platz verabredet, wo der erste Friedrichshainer Ökomarkt eröffnet werden sollte. Er spottete immer, dass Sandra vor lauter Begeisterung einen Orgasmus kriegen würde, wenn sie Gemüse und Milchprodukte aus biologischem Anbau kaufen und Kaffee aus ›fairem‹ Handel trinken konnte.

Die Gegend zwischen der Frankfurter Allee im Norden und den S-Bahnhöfen Warschauer Straße und Ostkreuz im Süden war Klütz so fremd, dass er das Gefühl hatte, in einer anderen Stadt zu sein. Eigentlich kannte er Berlin ganz gut, aber das betraf nur die Gebiete, in denen es Fußballstadien und Sportplätze gab oder wenigstens Vereine, die irgendwann einmal in den oberen Ligen aufgetaucht waren. Seine Lehrer hatten ihn früher immer gefragt: ›Hast du denn nichts anderes als Fußball im Kopf?‹, und seine Antwort war immer dieselbe gewesen. ›Nein.‹ Warum denn auch, hätte er noch hinzufügen können, denn spielte man in der Bundesliga, war man doch der absolute King: Man verdiente Millionen und war ein paar Mal pro Woche in den Medien, sodass alle einen kannten und bewunderten. Sollte er bei diesen Aussichten vielleicht Krankenpfleger lernen und anderen die Kacke vom Hintern wischen? Und seine Rechnung war ja aufgegangen. Dass er zwischendurch einmal ein wenig in Abstiegsgefahr geraten war, damit musste man leben. In den vielen Artikeln, die über ihn geschrieben worden waren, stand immer wieder, dass er ein liebenswertes Raubein sei, hart, aber authentisch, gefürchtet wegen seiner ›Blutgrätsche‹, geliebt wegen seines gradlinigen Charakters.

Er sah auf die Uhr. Zweimal war er schon ums Karree gelaufen, und Sandra war noch nicht aufgetaucht. Er machte sich große Sorgen um sie, seit Ramona ihn angerufen und angefleht hatte, Sandra so schnell wie möglich aus der Villa am Wannsee herauszuholen, weil Schulz offen gedroht habe, sie umzubringen. Aber wie sollte er sie herausholen, wenn sie nicht bereit war zu gehen? Und er konnte ihr deswegen auch keinen Vorwurf machen, denn aus eigener Erfahrung wusste er, wie schwer es war, von allem Abschied zu nehmen. Wenn Schulz Sandra umbrachte, dann …

Man müsste Schulz umbringen, bevor der …

Es war ein Gedanke, der ihn nicht mehr losließ. Er selbst sah ihn als einen Virus, der sich langsam und unaufhaltsam auf seiner Festplatte ausbreitete und sehr bald das Programm voll im Griff haben würde.

 

*

 

Rainer Wiederschein bekam einen Tobsuchtsanfall, als er bemerkte, dass im hintersten Winkel der Speisekammer ein teuer eingekaufter spanischer Schinken hing, der furchtbar verschimmelt war und schon nach Aas zu stinken begann.

»Habt ihr denn alle Tomaten auf den Augen und amputierte Riechorgane, dass ihr das nicht merkt?«, schrie er.

Doch es war niemand da, der ihn gehört hätte, denn seine Leute waren alle irgendwo mit anderem beschäftigt. Was tun? Wiederschein überlegte. Sah ihn jemand mit dem verschimmelten Schinken oder entdeckte man den in der Mülltonne, dann war das überaus rufschädigend für sein Restaurant, denn sofort würde es heißen: ›Aha, da möchte ich ja nicht wissen, was bei dem im »à la world-carte« alles an vergammeltem Fleisch auf den Tisch kommt.‹ Also war es das Beste, den Schinken vor dem Schlafengehen hinten im Garten zu vergraben.

Angela war zu einer Filmpremiere in die Stadt gefahren, und da sie im Restaurant heute Ruhetag hatten und das Gästehaus derzeit leer stand, waren auch Gudrun und Freddie ausgeflogen. So konnte er sich, als es 23 Uhr geworden war, ungestört an die Arbeit machen.

Bei der Laubach drüben war alles dunkel, und auf der Baustelle nebenan war es schon lange still geworden.

Wohin mit dem verdorbenen Schinken? Am besten, er vergrub ihn unterm Kirschbaum. Vielleicht gab er einen guten Dünger ab, wenn er sich langsam zersetzte. Nein, die Maden. Also ein Stückchen weg vom Kirschbaum.

Er holte den Schinken aus dem Heizungskeller, wo er ihn versteckt hatte, und trug ihn in den Garten hinaus. Zum Glück hatten sie derzeit keinen Hund, und auch die Köter in der Nachbarschaft gaben Ruhe. Da es stürmte und immer wieder Regenschauer gab, hatte man die abendliche Runde längst gedreht. Der Schein der Laterne, die oben am Giebel hin und her schaukelte, reichte bis in den hintersten Winkel des Gartens, und es war hell genug, ein Loch zu graben. Wenn er sich beeilte, schaffte er es, bevor die nächste S-Bahn vorüberrollte.

Kräftig stieß er den Spaten in den aufgeweichten Boden und trieb ihn, indem er mit dem rechten Fuß auf das Metall trat, noch tiefer hinein, zu tief, wie sich alsbald herausstellen sollte, denn er hatte zu wenig Kraft in den Armen, um wirklich einen großen Brocken herausheben zu können. Aber allmählich ging es besser. Um nicht Ratten, Füchse, Marder und streunende Katzen anzulocken, war es sicherlich notwendig, denn Schinken mindestens einen Meter tief zu vergraben.

Er war schon ziemlich weit gekommen, als er auf etwas stieß, das unter dem Schnitt des Eisens zerbrach und augenscheinlich weder Stein noch Wurzel war. Vorsichtig grub er weiter und holte dann seine Taschenlampe aus der Hosentasche. Als er sie eingeschaltet hatte, erkannte er mit einigem Schaudern, dass er auf Arm und Schulter eines verscharrten Toten gestoßen war. Reste von Kleidungsstücken kamen zutage, zerschlissen und gebräunt, aber immer noch farbig und wohlerhalten genug, um erkennen zu lassen, dass es ein Soldat gewesen sein musste.

Wie kam der hierher? Wahrscheinlich war er im Frühjahr 1945 beim Kampf um Berlin gefallen. Oder als Deserteur erschossen worden. Das schien wahrscheinlicher zu sein, denn soweit Wiederschein wusste, hatte es hier oben in Frohnau keine Gefechte gegeben.

Er stützte sich auf seinen Spaten. Sollte er am Morgen zur Polizei gehen und die Sache anzeigen? Nein, denn mit seinem Freund Siebenhaar wollte er nichts zu tun haben. Und dann der Tratsch. Wo man einen Toten unterm Kirschbaum gefunden hatte, mochte keiner mehr einkehren.

Es war also besser, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Hatte der Tote über 50 Jahre hier gelegen, konnte er auch noch weitere 50 Jahre hier liegen. Und damit warf Wiederschein den Armknochen, den er ausgegraben hatte, in die Grube zurück und schüttete diese wieder zu.

Während dieses Zuschüttens aber hing er all jenen Gedanken und Vorstellungen nach, wie sie ihm seit Wochen immer häufiger kamen. Kamen und gingen. Heute aber gingen sie nicht, sondern wurden Pläne, die Besitz von ihm ergriffen …